Brouillard - débrouillé (vom Improvisieren mit der Maschine).
(Referat am 14.11.1997, Audio-Design Symposium, Elektronisches Studio Basel)
Improvisation soll, so ist die Meinung, spontan, unwiederholbar und individuell sein. Von der elektroakustischen Maschinerie, speziell vom Computer, wird eine präzise, genau repetierbare Ausführung von Instruktionen erwartet. Ich mache den sehr persönlichen Versuch, mit dem Unmöglichen umzugehen.
Dies ist ein sehr persönlicher Bericht über Erfahrungen eines jazzorientierten Improvisators mit alten und neuen elektronischen Musikmaschinen. Ich weiss nicht, ob diese Erfahrungen verallgemeinert werden können und ob sie für andere Musiker nützlich sein können - entscheiden Sie selbst.
Ich möchte eine hintergründige Absicht nicht verschweigen: ich möchte mit meinem Vortrag eine Diskussion provozieren, die über das Staunen über wunderbare neue technische Möglichkeiten hinausgeht, eine Diskussion, die die Persönlichkeit des Interpreten einbezieht.
Vor etwa 10 Jahren, zur Zeit unserer Experimente mit dem Computermusiksystem DMX-1000, machte ich den relativ aussichtslosen Versuch, mit diesem System zu improvisieren. Ich stellte mir eine Anordnung vor, die auf die Klänge eines akustischen Instruments auf verschiedenartigste Weise reagiert - in der Praxis waren das bescheidene variable Echo- und Halleffekte und Klangveränderungen durch Filter - aber immerhin das in Echtzeit. Die wesentliche Idee dieses Stücks, das ich "Brouillard - débrouillé" nannte, war, dass durch eine Zufallsmanipulation vor Beginn des Stücks alle Parameter auf irgendwelche willkürliche Werte gestellt wurden. Der Spieler hatte die Aufgabe, durch vorsichtiges Abtasten der Reaktionen zu lernen, wie das System ihm antwortet. Bildlich gesagt: am Anfang des Stücks befindet sich der Spieler im dichtesten Nebel. Durch vorsichtiges Tasten, oder auch, je nach Temperament, mutiges Hineingreifen beginnt er seine nächste Umgebung kennenzulernen, er "débrouilliert" sich immer mehr, erwirbt sich eine gewisse Sicherheit im Umgang mit seiner Umgebung, bis - und das wäre dann noch eine heimtückische Wendung des Stücks - sich die Konstellation vielleicht unerwartet verändert und er sich in einem neuen unerforschten Terrain befindet. Diese Idee, damals nur in Ansätzen zu realisieren, mag für Sie, vor allem für die ernsthaften Interpreten und Komponisten unter Ihnen, recht absurd klingen. Sie ist, möglicherweise, die komprimierte Form von Erfahrungen mit Improvisation, wie sie in einem Traum, vielleicht sogar in einem Albtraum, vorkommen könnte.
Traditionelle Jazzimprovisation beruht, auf den ersten Blick ganz im Gegensatz zur vorher skizzierten Idee, auf genau bestimmten Abläufen, auf repetierten Harmoniefolgen mit einem einfachen Formschema. Dazu kommen zahlreiche stilistisch bedingte Einschränkungen. Es ist erstaunlich, welche Variationsbreite trotz diesen Restriktionen erreicht wird, auch wenn oft genug lediglich eine Aneinanderreihung von vorgefertigten Bausteinen, sog. Licks, von Scales, Zitaten und banalen traditionellen Wendungen zu hören ist. Improvisationen haben die Tendenz, sich "einzubrennen" - das wusste Miles Davis sehr gut, der seinen Mitspielern den Rat gab: "Denk an eine Note, und spiel dann eine andere". Aber auch diese mentalen Tricks genügen oft nicht: Es braucht die Intervention, die Störung durch Mitspieler, durch spieltechnische Missgeschicke, die den Routinespieler aus seiner Bahn werfen und ihm den nötigen "Kick" zu neuer Erfindung geben.
Sogenannt freie Improvisatoren scheinen meist ein grösseres Repertoire an Verhaltensweisen zu besitzen; aber auch bei ihnen sind immer wieder die gleichen Floskeln zu beobachten, die manchmal gerade aus krampfhafter Vermeidung des Einfachen, Selbstverständlichen heraus entstehen. Oft genug werden immer wieder die gleichen Kabinettstückchen vorgeführt, die garantiert publikumswirksam sind. Kurz: Auch der beste Improvisator greift immer wieder auf vorgeformte Elemente zurück und braucht einen Anstoss, der ihn aus der bequemen Bahn wirft.
Die Rolle des Störenfrieds wurde in der analogen Phase der elektroakustischen Musik perfekt übernommen durch die damaligen Synthesizer. Keine noch so genau notierte Voreinstellung war präzis reproduzierbar, und in der Konzertsituation geschah laufend Unerwartetes, ja Unerklärliches. Ich erinnere mich an ein Konzert auf der heissen Terrasse des Casino Montreux, wo einige Geräte - durch die Sonnenstrahlung verwirrt - Klänge produzierten, die ich seither nie mehr gehört habe.
Möglicherweise gibt es wegen der Unzuverlässigkeit damaliger Geräte im Gebiet der Neuen Musik so wenige ausnotierte Stücke für analoge Synthesizer, sondern vor allem Patches und vage grafische Anweisungen. Die Komponisten der Neuen Musik hielten es auch oft nicht für nötig, sich mit trivialen technischen Einzelheiten abzugeben. Ich erinnere mich aus den Siebzigerjahren an einige Partituren, in denen irgendwo grossartig die Worte "Oszillator" oder "Ringmodulation" standen, leider ohne irgendwelche Klärung, was da nun wie oszillieren sollte oder was da mit was moduliert werden sollte. Es waren vor allem die Pop- und Jazzmusiker, die einen zwar beschränkten, aber immerhin brauchbaren Katalog von Klangeffekten schufen. Gute Interpreten schafften es, den typischen Sound von Chick Corea, Herbie Hancock auf ihren Geräten zu imitieren.
Die kommerzielle Einführung von mikroprozessorgesteuerten Preset-Synthesizern, von digitalen Klangerzeugern und dann von Samplern machte aus der Kunst einiger Weniger die selbstverständliche Klangpalette aller Anwender. MIDI und die Sequencerprogramme machten die exakte Steuerung von Synthesizern zu einer simplen Angelegenheit. Dies war - in den frühen Achtzigerjahren - einerseits ein wunderbarer Zustand - und dennoch, für mich persönlich, zutiefst langweilig. Ich hatte in den vielen Jahren, im Umgang mit analogen unzuverlässigen Geräten, schlechte Gewohnheiten erworben: ich wartete nun vergeblich auf das Unerwartete.
Nun, es liess nicht allzu lange auf sich warten. Wenn auch der Computer selbst relativ fehlerfrei funktionierte, so waren doch seine Verbindungen zur Aussenwelt erfreulich anfällig: vor allem die Uebermittlung und Wandlung analoger Signale zur Steuerung des Computers. Der erste IVL Pitch-to-Midi-Converter (1985) verhalf zu einem interessanten Experiment: ich steuerte über ihn mit dem Saxophon mehrere Synthesizermodule. Der Summen-Ausgang des Mischpultes ging als Rückkopplung teilweise zurück auf den Converter. Die scheinbar unsinnige Schaltung funktionierte dank der Unvollkommenheit des Converters wunderbar: seine langsame Reaktion und seine Tendenz, bei komplexem Input Fehler zu produzieren, führte zu Resultaten, die erstaunlich an die wunderbar undisziplinierten, aber kreativen Free-Jazz-Orchester der Siebzigerjahre erinnerten - wie etwa Chris McGregor's Brotherhood of Breath. Sobald das Saxophon dominierte, folgten die Synthesizer brav mit; wenn es die Führung abgab, liess die Disziplin des Orchesters nach und nahm ein Eigenleben an. Leider kam ein neues, verbessertes Modell des IVL-Converters heraus, und damit war das Stück nicht mehr spielbar.
Ich habe aus dieser Erfahrung - und aus einigen späteren, ähnlich gelagerten Erlebnissen, einige persönliche Schlüsse gezogen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Die gewählte Rückkopplungs-Anordnung für dieses Stück ist natürlich von einer geradezu idiotischen Simplizität, besonders wenn man an Tagungen und in der Literatur auf grossartige Software-Konstruktionen, neuronale Netzwerke und selbstlernende Anordnungen trifft, die es immer besser schaffen, musikalische Entscheidungen intelligent zu treffen. Nur - ich weiss nicht, ob es nur mir so geht: die musikalischen Resultate der meisten derartigen Konstrukte scheinen mir nicht sehr überzeugend. Ich meine, dass schon erstaunlich einfache Mechanismen in der Live-Situation, in der Spannung des Momentes, im Zusammenhang mit einem wachen Interpreten, eine Komplexität annehmen, die erstaunlich ist. Mehr ist möglicherweise im Endeffekt weniger.
Vielleicht lässt es sich auch so formulieren: Interaktive Systeme, wie sie etwa im Buch von Robert Rowe beschrieben sind, versuchen den Computer zu trainieren, so zu reagieren wie ein etwas minderbegabter Interpret. Ich meine, der Mensch ist leichter zu trainieren als der Computer.
Die Programmation des Computers dient zur Herstellung einer Situation, in der der Improvisator intuitiv am besten reagieren kann. Ob dies nun in einer Hightech-Umgebung stattfindet oder mit primitivsten Tonerzeugern ist letztlich unwichtig.
Nicht der Computer ist das Wesentliche, sondern die psychische Reaktion des Menschen - es geht darum, die nötige Spannung. Ueberwachheit beim Improvisator zu erzeugen, aus der dann die "Mutationen" entstehen.
Sie werden vielleicht fragen: warum dann überhaupt Computer verwenden? Ein Beispiel: ich verwende ein System des Kanadiers David Rokeby, das auf Bewegungen vor einer Videokamera reagiert. Da meine Gestik nie präzis wiederholbar ist, kann ich nicht genau sagen, welche Klänge durch meine Bewegungen ausgelöst werden.
Hier haben wir also einen Unsicherheitsfaktor bei der Uebermittlung der Gesten vom Interpreten zum Computer: ich kann nicht genau bestimmen, was ich mit einer Geste auslöse. Eigenartigerweise aber stört mich das nicht im geringsten - ich fühle mich sogar in dieser Umgebung äusserst wohl und habe das Gefühl, das genau das geschieht, was ich mir vorgestellt habe: ich steuere, um einen Satz von Salvatore Martirano abzuwandeln, einen grossen Bus oder ein Flugzeug, ein Fahrzeug, das über so komplexe Steuermechanismen verfügt, dass ich sie allein nicht steuern könnte.
Nur nebenbei dazu die folgende Bemerkung: Man meint oft, Programmierung sei eine objektive, neutrale Beschäftigung. Demgegenüber habe ich die Beobachtung gemacht, dass Musikprogramme wie z.B. M, JamFactory, Presto, MusicMouse, Voyager die Persönlichkeit ihrer Schöpfer recht präzis spiegeln - oft sogar, dass andere Benutzer unwillkürlich stilistische Eigenheiten des Programmierers annehmen. Es ist schwer, mit dem Programm M Stücke zu produzieren, die nicht an Joel Chadabe erinnern.
Ich habe noch keine überzeugende Aufführung von Presto ohne seinen Schöpfer Guerino Mazzola, von Voyager ohne George Lewis gehört. Das aber nur nebenbei - noch einmal zurück zum vorherigen Stück:
Der Computer hat hier - im Gegensatz zum ersten Beispiel, eine wichtige Zusatzfunktion. Improvisatoren neigen dazu, die Formaspekte zu vergessen. Die Programmierung, in diesem Fall vier Teile mit verschiedenen Reaktionsweisen und Klängen, führt mich relativ sanft durch das Stück - sanft deswegen, weil ich den Wechsel zwischen den Teilen mit meinen Bewegungen beeinflusse. Es braucht 50 grössere Bewegungen, dass der Computer auf den nächsten Teil schaltet.
Man könnte sich auch andere formale Strategien ausdenken: In einem anderen Stück, "A Digit for Dr. Diamond", übernimmt der Computer immer mehr die Führung. In "Krebsgänge" habe ich versucht, den Solisten durch die Art der Reaktion des Systems durch die Phasen des Stücks zu führen, ohne dass ihm dies ganz bewusst wird.
Beachten Sie auch: Der begriffliche Unterschied zwischen Komposition und Instrument wird unklar. Die Programmierung des Instruments ist das Stück.
Vielleicht noch ein anderer Gedanke im Zusammenhang mit diesem Stück - ein Vorfall, der für mich eine wichtige Lehre war. Nach der Aufführung am Willisauer Jazzfestival mit einer Sängerin als Interpretin kam der Jazzkritiker einer grossen Zeitung zu mir und fragte mich, warum die Sängerin so eigenartig zur Musik getanzt habe. Es ist heute nicht mehr leicht, dem Publikum klar darzustellen, dass es sich nicht um ein vorproduziertes Spektakel handelt. Vor wenigen Jahren noch konnten Popmusiker mit vorfabrizierten Playbacks die Illusion einer echten Performance hervorrufen - heute ist es eher umgekehrt: jedes Kind erwartet Playback und vermutet hinter echten Live-Aufführungen den versteckten Sequencer. Der Blendeffekt moderner Technologie-Elemente versickert bald, wenn der wesentliche Inhalt einer Anordnung nicht klar gemacht werden kann. Für jede technisch einigermassen interessierte Person ist heute nachvollziehbar, dass Alles durch Alles steuerbar geworden ist - ungelöst ist aber in vielen Fällen die Frage der sinnvollen Verknüpfung von Auslöser und Ergebnis, in diesem Falle also von Gestik und klingendem Resultat, oder in anderen Fällen von klingendem Input und Computergrafik etc etc. Don Buchla sagte mir einst, er interessiere sich beim Instrumentendesign nur für die Logik der Verknüpfung von Geste und Resultat - die technische Realisation sei ein Kinderspiel. Ich möchte ergänzen: ein derartiges System funktioniert erst wirklich, wenn die Technik dahinter beim Spielen vergessen wird, wenn der Spieler intuitiv handeln kann und keine Maus, keine Computertastatur und auch kein Fussschalter ihn am Fliegen hindert.
Zurück zum Anfang, zum Nebel: das Wesentliche an der Brouillard-Idee ist nicht die technische Realisation, sondern die psychische Reaktion des Improvisators, der aus der Bahn geworfen wird, der Versuch mit technischen Mitteln die Kreativität, Spontaneität des Interpreten zu stimulieren. Die Ausschaltung des Sehens durch den Nebel sensibilisiert die anderen Sinne und führt zur Improvisation als - im unerreichbaren Idealfall - einmaliges, unwiederholbares Live-Ereignis. Ein Gedanke im Zeitalter der beliebigen technischen Reproduzierbarkeit, Kopierbarkeit aller Kunstwerke durch Sampling und Bildbearbeitung: es entstehen Aufführungen, die nur einigermassen dokumentierbar sind durch audiovisuelle Aufzeichnung, aber im Grunde genommen nur live wirklich erlebbar sind.